[Triggerwarnung: Traumata, Reinszenierung von Gewalt]
Der Emotionale Absturz oder auch die Emotionale Überflutung kann sich während oder nach einer Fesselsession, viel eher aber aufgrund einer BDSM-Session als Reaktion beim Modell zeigen. Es zählt zu den psychischen "Unfällen" im Bondage und BDSM und ist für den*die Fessler*in / aktiven Spieler*in unvorhersehbar.
1. Wie sich ein Emotionaler Absturz zeigen kann:
- Das Modell fängt unvermittelt und scheinbar grundlos an zu weinen, wird von der Emotion sehr eingenommen
- Das Modell steht wie neben sich, redet wenig oder nur minimal
- Das Modell ist in sich gekehrt oder wirkt stark verunsichert während oder nach einer Fesselsession
- Es kann sein, dass das Modell schnellstmöglich weglaufen möchte/ nach Hause will, bzw. sich zurückzieht
- Es kann auch sein, dass für den*die Fessler*in absolut kein Anzeichen für einen Emotionalen Absturz zu erkennen ist. Das Modell scheint sich zu freuen, reflektiert, ist -scheinbar- glücklich nach der Session. Stunden (manchmal auch Tage) später kommt dann der Zusammenbruch/ein Anruf oder die Info, dass es ihm*ihr dann zuhause überhaupt nicht gut ging.
In den meisten Fällen können die Betroffenen gar nicht klar sagen, warum sie weinen oder sich traurig fühlen, mitunter kann es auch zu Lachanfällen (für den*die Betroffene*n ist das sehr verwirrend!) und Wutausbrüchen kommen. Eigentlich ist alles an Emotionen möglich. Die Betroffenen fühlen sich im Anschluss an den Emotionalen Absturz oft erschöpft, manche auch erleichtert.
Ein weiteres sehr frühes Anzeichen/Warnzeichen könnte es auch sein, wenn das Modell plötzlich nicht mehr mit dem Reden aufhört, andauernd viel zu viele unwichtige Fragen stellt, auffällig oft/laut lacht, etc. In diesem Fall gilt für den*die Fessler*in: Einen Gang runterschalten, ehrlich kommunizieren und mit einer leichteren Fesselung weitermachen (z.B. Arme vor dem Körper). Nicht aufhören wollendes Reden und viel zu lautes Lachen können auch ein Anzeichen von früher Überforderung des Gehirns bei neuen Modellen beim Bondage/BDSM sein.
2. Was ist passiert?
Es gab eine Situation während der Fesselsession, bei der:
1) Das Gehirn des Modells (ich sage mit Absicht "das Gehirn des Modells" und nicht "das Modell", da dieser Vorgang absolut nicht willentlich gesteuert wird/werden kann und das Modell keine Schuld trägt) stark überfordert war und nun Schwierigkeiten hat, das Erlebte richtig einordnen zu können: Eine gespielte Szene mit einvernehmlichem Fesseln konnte ggf. nicht von realer Bedrohung unterschieden werden. Es folgt eine starke Stressreaktion, vielleicht auch Angst oder ein emotionales Durcheinander. Diese Spannung entlädt sich dann z.B. durch Weinen, könnte aber auch grundlose Lachanfälle erklären (diese können tatsächlich auch eine Reaktion des Körpers auf Emotionale Überflutung/Überspannung sein).
2) Bewusste oder unbewusste Traumata des Modells getriggert wurden.
Übrigens: Menschen, die in ihrer Vergangenheit Gewalterfahrungen machen mussten, fühlen sich oft zum BDSM/Bondage hingezogen. Kommt es dann zu einer Reinszenierung von Gewalt (auch das gefesselt sein kann vom Gehirn als wiedererlebtes Traumata verstanden werden), ist ein Emotionaler Absturz im Anschluss nicht unwahrscheinlich. Ich möchte nochmal betonen, dass dies sein KANN aber nicht so sein muss. Diese Menschen machen das nicht mit Absicht, berechnend oder gar freiwillig - das Gehirn ist so angelegt.
3) Es lief wirklich etwas schief; es gab vielleicht - offensichtliche - Kommunikationsprobleme oder du als Fessler*in bist vielleicht etwas zu weit gegangen (ich tröste dich: das ist im BDSM und manchmal auch beim Fesseln leider am Anfang normal - nur durch das reflektieren und das lernen aus solchen Situationen kannst du besser und verantwortungsbewusster werden). In diesem Fall hilft eine aufrichtige Entschuldigung und gute Kommunikation, bzw. Absprachen für die Zukunft.
3. Ist der*die Fessler*in Schuld?
Man könnte jetzt meinen, dass wenn ein Modell mit einem Emotionalen Absturz aus der Session geht, der*die Fessler*in auch dann Schuld daran gewesen sein muss oder es hätte verhindern können. Aber das ist nicht zwingend der Fall. Warum?
- Wenn du als Fessler*in noch am Anfang stehst und dein Modell in den Seilen noch nicht in- und auswendig kennst, dürfte es dir schwerfallen, mögliche emotionale Frühwarnanzeichen richtig deuten zu können
- Weil es Menschen gibt, die es perfekt überspielen können wie es ihnen wirklich geht. Und das machen sie weder bewusst noch mit Absicht (das kann besonders bei Menschen mit Traumata zutreffen)
- Es kann sein, dass dein Modell dir noch keine Emotionen und Reaktionen (wie z.B. Tränen o.ä.) zeigen will. Gerade, wenn ihr euch noch nicht lange kennt.
- Weil ein Emotionaler Absturz - quasi als Überlebensreaktion des Gehirns - auch erst Stunden (oder Tage) später eintreten kann
4. Was ist zu tun?
Ein Emotionaler Absturz/Überflutung ist zwar echt unangenehm, geht jedoch auch schnell vorbei (20Min - 2 Stunden). Meistens treten sie auch nur nach den ersten 1-2 Fesselsessions auf. Was du als Fessler*in tun kannst, um deinem Modell zu helfen:
- Dabei bleiben, aber vorher fragen, ob das gewünscht ist. Meistens wirkt die bloße Anwesenheit einer Person beruhigend.
- Decke + Wasser + Süßkram/Essen bringen (hilft!)
- Körperliche Nähe, wenn das gewünscht ist (unbedingt vorher fragen!)
- Einen lustigen Film anmachen
- Kommt dein Modell minutenlang einfach nicht aus dem Weinen heraus, verkrampft sich der Zustand und wird schlimmer:
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- Salz auf die Zunge geben, Zitrone oder Pfefferminzbonbon anbieten (starker Reiz)
- Zusammen Atmen
- einen kleinen Ball/Kissen niedrig zuwerfen und den Ball immer wieder fangen lassen (ablenkenden Reiz setzen)
- Aufforderung: "Erzähl mir mal, was dein Lieblingsessen ist!"
- Musik anmachen und das Modell annimieren mitzusingen oder zu tanzen. Das ist verständlicherweise sehr schwer bei einer solchen Situation. Dennoch kann es als Angebot gemacht werden.
In dem Moment der Emotionalen Überflutung wollen und können die meisten Menschen nicht reden. Da das Sprachzentrum im Gehirn aufgrund des emotionalen Stresses heruntergeregelt ist, haben sie mitunter Wortfindungsstörungen oder großen Unwillen zu Sprechen.
5. Übrigens:
- Die Emotionale Überflutung kommt am häufigsten bei Menschen vor, die ihre ersten Erfahrungen im Bereich BDSM und Bondage machen. Seltener bei erfahrenen Modellen/Spieler*innen
- Der Emotionale Absturz/Überflutung kann auch ein Symptom von Traumatisierung sein oder mit PTBS (Posttraumatischer Belastungsstörung) entweder verwechselt werden oder einhergehen. Auch Flashbacks und Drogenkonsum sind mögliche Erklärungen.
- Auch psychisch sehr stabile Menschen können einen Emotionalen Absturz haben
- Bei Menschen, die vor der Fesselsession unter extremen Stress und Anspannung gestanden haben (Stress auf Arbeit, etc. aber auch Angst/Aufregung vor der Session) kann es zu einem Spannungsabfall nach der Session kommen: sie fangen an zu weinen. Das ist dann kein Emotionaler Absturz/Überflutung, sondern kann eine normale Reaktion auf plötzlichen Stressabfall sein.
- Innerhalb der BDSM- und Bondage-Szene gilt der "Emotionale Absturz" als normale mögliche Folge einer Session. Es handelt sich aber - aus traumatherapeutischer Sicht und aus Sicht des Nervensystems und seiner Zustände - keineswegs um eine Reaktion, die man einfach so als "normal" akzeptieren und hinnehmen oder gar provozieren sollte. Egal aus welchem Grund der Emotionalen Absturz passiert ist, es sollten zukünftige Handlungsstrategien vereinbart und die Ursache - gerne auch durch therapeutische Unterstützung- abgeklärt werden. Es ist ein ganz klares Feedback des Nervensystems, welches in Überlebens-Stress geraten ist.
6. An die Betroffenen, die bis hierhin gelesen haben:
Wenn du selber als Modell immer wieder mit Emotionalen Abstürzen/Überflutungen nach einer Bondagesession zu tun hast, dann kann es vielleicht hilfreich sein zu überlegen, ob:
- dir Bondage wirklich gut tut oder es nicht eine andere Beschäftigung gibt, die dir Freude bringt und dich bestärkt
- du dich ggf. an eine*n Therapeuten*in (Psychotherapie, ggf. auch Traumatherapie) wenden darfst - vielleicht gibt es noch ganz viel herauszufinden, warum du genau so und so reagierst
- du dich bei einem*r anderen Fessler*in sicherer/wohler/beschützter fühlen würdest
Ich möchte noch zuletzt vor einer Sache warnen: Es gibt Menschen, die das verständliche Bedürfnis haben, ihre Traumata oder psychischen Erkrankungen mithilfe von Bondage- oder BDSM-Sessions heilen oder die Symptome davon lindern zu wollen. Und ja, das kann auch mit viel Glück zu Teilen ein bisschen funktionieren – ist aber Russisch Roulette.
Wenn du das Bedürfnis hast, schmerzhafte Themen aus der Vergangenheit oder Symptome psychischer Erkrankungen zu bearbeiten, dann wähle bitte nicht Bondage oder BDSM als Selbsttherapie. Das kann in wenigen Sekunden oder einer falschen Bewegung zu einer Verstärkung und Verschlimmerung führen, dich retraumatisieren und zusätzlich noch deinem Gegenüber, der*die höchstwahrscheinlich kein Therapeut ist, maßgeblich schaden - Die wenigsten Menschen wissen mit getriggerten Traumata oder Folgestörungen (PTBS) umzugehen und können dich nicht richtig auffangen – auch wenn sie sich die größte Mühe geben und beste Absichten haben. Bitte wende dich an eine*n Therapeuten*in.
Siehe auch: Aftercare
Tutorials: Nach dem Fesseln