Viele Shibari-Praktizierende sind der Meinung, dass Shibari super alt ist und es eine lange Tradition des Fesselns seit dem Japanischen Mittelalter geben würde. Doch diese romantische Vorstellung hält einem etwas strengeren Blick in die Geschichte überhaupt nicht stand.
Was dürfen wir hier wirklich glauben? In diesem Artikel werden wir erkennen, dass Shibari ein sehr viel moderneres Phänomen ist, als vielen lieb sein dürfte.
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Über die Samurai und ihre Fesselkunst
In der Edo-Zeit (1603–1868) entwickelte sich die 18. Kriegskunst der Samurai (nach Disziplinen wie z.B. Bogenschießen, Nahkampf, Schwertkampf, Reiten, Ringen, etc.), welche Hojojutsu oder auch Torinawa genannt wurde. Sie diente der Festnahmen, dem Abtransport und der Erniedrigung von Gefangenen, aber auch, um Kriminelle für Gerichtsverhandlungen vorzubereiten oder Strafen durchzuführen.
Man weiß auch, dass sich die Fesselungen je nach Präfektur Japans sowie nach Grad der Verurteilung und dem sozialen Status des Gefesselten unterschieden haben und manchmal auch sehr schöne Muster als Erkennungsmerkmal der machthabenden Ninja-Familie aufgewiesen haben sollen. Jedoch ging es klar um Kontrolle, Erniedrigung und dem Zurschaustellen der Betroffenen. Hojojutsu war die Fesselkunst des Militärs und quasi der “Polizei” jener Zeit.
Verwendet wurden relativ kurze Seile, die oft mit einem Metallhaken am Ende versehen waren, um sie etwa am Kragen der gefesselten Person zu fixieren. Häufig begann man auch mit einer sich zuziehenden Schlinge um die Daumen hinter dem Rücken – eine Technik, die aus heutiger Sicht wohl nicht ohne gesundheitliche Risiken war.
Eine Spezialität der Samurai-Fesselungen waren auch enge Seile um den Hals, mit dem Ziel, Geständnisse zu provozieren. Zusätzlich wurden vereinzelt kleine Holzstücke in die Fesselung integriert, um gezielt Druck auf bestimmte Stellen auszuüben.
Viele der damals verwendeten Fesselungen waren explizit auf Kontrolle durch Schmerz, Schädigung des Körpers, Unterwerfung oder Erniedrigung ausgelegt. Wieder andere zogen sich bei jedem Befreiungsversuch enger um den Hals oder konnten mit Hilfe langer Bambusstäbe als Foltertechnik “zugedreht” werden.
All das hat recht wenig mit dem zu tun, was wir heute im modernen Shibari praktizieren. Das Hojojutsu der Samurai hat soviel mit unserem Lieblingshobby zu tun, wie mittelalterliche Wehrbauten mit moderner Architektur - zwei völlig verschiedene Intentionen, Wertmaßstäbe und Umsetzungen.
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Der wahre Erbe der Samurai-Tradition
Was viele nicht wissen: Hojojutsu wird tatsächlich bis heute praktiziert: In Japan und von einigen wenigen Kampfkunstschulen im Ausland. Und auch die Japanische Polizei bekommt bis heute Ausbildungseinheiten im Hojojutsu- hauptsächlich aus Gründen der Traditionspflege: Es wird in Karate-Anzügen mit Seilen, Stricken und Gurten auf Turnmatten gefesselt und für den Transport fixiert. Ganz ohne jeden Gedanken an BDSM, Kunst oder Erotik. Die Kampfkunst Hojojutsu wurde zwar in puncto Sicherheit der Sportler angepasst - unterscheidet sich jedoch deutlich von allem, was wir im Shibari machen.
Ist dann nicht eigentlich Hojojutsu der wahre Erbe der Samurai-Tradition und nicht Shibari? Was hat erotisch-ästhetische Unterhaltungskunst mit den Kriegstechniken der Samurai im 16. Jahrhundert zu tun, wenn es doch einen direkten Nachfolger mit durchgehender Übertragungslinie gibt?
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Als Shibari wirklich entstand
1920 kam der japanische Künstler Itoh Seiyu (1882-1961) auf die Idee, gefesselte Frauen zu fotografieren und zu zeichnen. Er gilt damit als Urvater des modernen Shibari, da er Fesselungen im erotischen Kontext künstlerisch in seinen Arbeiten als einer der ersten in Szene setzte.
Vor Itoh Seiyu gibt es zwar allerhand versautes Material in Japan und Bösewichte wurden stets in Seilen gefesselt, jedoch ist die Vermischung von Fesselung mit Kunst, Erotik und Unterhaltung ein neues Phänomen im beginnenden 20. Jahrhundert. Und das kann man auch an der Wortherkunft ableiten:
Die Begriffe
Das Wort “Shibari” war nie konkret für das sinnlich-ästhetische Fesseln gedacht. Es sagt einfach nur aus, dass etwas gebunden oder verbunden wird. Meistens etwas Textiles.
Die erste Verwendung des Verbs shibaru im Kontext des Fesselns einer Person ist ab ca. 1925 erstmalig belegt. Das Substantiv Shibaru und davon abgeleitet Shibari ab 1990.
Das Wort “Kinbaku” (enges, festes Binden einer Person mit emotional-erotischen Absichten) ist zur großen Enttäuschung vieler Fesselnder auch alles andere als alt. Es handelt sich hierbei um eine Wortneuschöpfung aus kin (eng, straff) und baku (fesseln) aus den 1950er Jahren, welche maßgeblich durch SM-Publikationen der Nachkriegszeit verbreitet wurde, um einen Begriff für die neu entstandene Fessel-Subkultur zu haben.
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Durch die Nachtclubs ins Schlafzimmer
Erst in den späten 1960er Jahren gab es die ersten Bondage-Shows in den Nachtclubs Japans und die ersten Namen von großen Fesselmeistern, wie z.B. Akechi Denki (1948-2005) und Nureki chimuo (1930-2013) wurden durch ihre Auftritte in zahlreichen Untergrundbars, SM-Theatern und Erotikshow bekannt.
Auch durch die immer beliebter werdenden Fotografien von inszenierten Fesselszenen mussten die Fesselmeister immer professioneller werden und Standards an Fesselungen abrufen können, statt sie immer wieder neu zu improvisieren. Spätestens ab den 1990er Jahren kamen dann Videoproduktionen dazu - hier mussten die Fesselungen nochmal schneller und besser funktionieren und die Verletzungsgefahr für die Erotikmodels sollte so gering wie möglich gehalten werden.
Und so kam es, dass die Fesselmeister eigene Stile zu entwickeln begannen, sich gegenseitig herausforderten und immer bessere und sicherer Muster für ihre Fesselungen nutzen. Es wurde viel experimentiert zu dieser Zeit. Aber all das sind unsere wahren Wurzeln- was die Meister damals entwickelten war maßgeblich für alles, was wir heute nutzen. Made for porn.
Zusatz: Wie viele wissen, wurde die Entwicklung des Internets hauptsächlich durch die Porno-Industrie vorangetrieben. Ohne Porn kein Internet wie wir es heute kennen. Anders war es auch beim Shibari nicht. Auch wenn wir so gerne was Historisches mit Samurai und Schwertkampf gehabt hätten. Es war hauptsächlich die Pornoindustrie, für welche unsere heutigen Fesselungen entwickelt worden sind.
Osada Steve war es dann ab den 2000er Jahren, der uns die Japanischen Fesselungen mit verständlichen Bezeichnungen klar standardisierte, ihre Abläufe normte und zurück nach Deutschland brachte. Ohne ihn würde heute keiner so fesseln wie wir es tun.
Und die Entwicklung ist noch lange nicht beendet - jedes Jahr lernen wir mehr dazu und passen unsere Techniken dem jeweiligen Erkenntnisstand an. Übernommen wird, was sicherer ist, schneller geht, schöner aussieht oder mehr Stabilität verspricht.
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Fazit
Das Hojojutsu der Samurai im 16. Jahrhundert und das moderne Shibari verfolgen zwei vollkommen unterschiedliche Ziele – sowohl in ihrer Motivation als auch in ihrer praktischen Anwendung. Zudem gibt es noch nicht mal eine durchgehende Linie, die Shibari mit den Samurai verbindet. Wohl aber gibt es diese von den Samurai ausgehend zum Hojojutsu bis heute.
Shibari, wie wir es heute kennen, entstand Anfang des 20. Jahrhunderts und hatte seine maßgebliche Entwicklungsphase ab den 1990er Jahren. Die Fesselungen wurden für die Porno-Industrie (Filme, Fotos) sowie Erwachsenen-Unterhaltungsshows entwickelt. Es ist ein hybrides Gebilde: viele der heute praktizierten Fesseltechniken sind nicht älter als 5-10 Jahre, da unser Wissen sich kontinuierlich im internationalen Austausch weiterentwickelt.
Dabei hat Shibari nicht nur Elemente aus der japanischen Kultur aufgenommen, sondern sich auch stark vom Western Bondage (einer eigenen Entwicklungslinie innerhalb des BDSM) beeinflussen lassen – ein Aspekt, der oft übersehen wird. Tatsächlich haben Nicht-Japaner die Fesselkunst in den letzten Jahrzehnten entscheidend geprägt und bereichert – auch wenn Shibari untrennbar mit der japanischen Kultur verwoben ist.
Lasst uns Shibari als ein modernes Phänomen der Gegenwart begreifen. Unsere Models sind nicht unsere Gegner, auch nicht unsere Opfer. Unser Werte könnten nicht weiter auseinanderliegen als von denen der Samurai: Das eine will verletzen und nimmt Schäden in Kauf, das andere arbeitet hart daran - investiert viel Zeit, Geld und Energie in Trainings- um genau das zu vermeiden.
Shibari steht für Verbindung, Vertrauen und eine geteilte Leidenschaft als Ausdruck von Kreativität, gegenseitige Achtsamkeit und sinnlicher Präsenz.